Das leere Haus voller Erinnerungen
Hunderte Male stand ich bereits hier: Vor der Tür zur Wohnung meiner Großeltern. Mal stolz und ganz hibbelig, weil ich das erste Mal ohne Stützräder gefahren war. Oder buntverpackten Geschenken. Manchmal weinend, mit aufgescheuerten Knien und viel zu viel Sand vom Spielplatz in den Schuhen. Andere Male hungrig, mit großer Vorfreude auf Omas Hühnersuppe – die beste der ganzen Welt! Ich schmeckte ihren Duft bereits vor der Tür. Das alles sind nur Erinnerungen. Heute stehe ich zum letzten Mal in meinem Leben vor dieser Tür und mich beschleicht ein unbehagliches Gefühl. Als ich die Haustür dieses Mal öffne, müffelt es nach Staub, alten Möbeln und Leblosigkeit.
OMA UND OPA BEI IHRER HOCHZEIT.

Herausgerissene Teppiche, schmutzige Bodenfliesen, herumstehende Besen, kahle Wände und keine Möbel. Ein leerer Flur. Opa starb vor wenigen Wochen und Oma lebt jetzt bei Mama – ich weiß das. Aber mir war nicht klar, dass die Abwesenheit meiner Großeltern dieses Fundament der Familie in sich zusammenstürzen lässt, wie ein altes, abgenutztes Kartenhaus.

Im alten Kinderzimmer zu meiner Linken stehen Kisten, leere Stühle und verdreckte Möbel herum. Morgen landen sie auf dem Sperrmüll. An der Wand hängt das vergilbte, verblasste Foto meines Opas in einer Seifenkiste, als er noch ein kleiner Junge war. Ich schließe meine Augen kurz, öffne sie wieder und schaue noch einmal hin. Jetzt erst sehe ich weißen Stuck, von dem die Tapete abgerissen wurde.

Das klitzekleine Badezimmer mit der Badewanne, in welcher das Badewasser jedes einzelne Mal die perfekte Temperatur besaß, ist heute nur noch eine trostlose Nasszelle. Die kleinen Schränkchen an den Wänden mit Omas Lieblingsparfüm „Tosca“ hängen nicht mehr. Meine Erinnerung fühlt sich schön und zugleich unfassbar traurig an.

ERINNERUNGEN: IN DIESEM BADEZIMMER BADETET OMA BEREITS
IHRE KINDER UND DANN SPÄTER UNS ENKELKINDER.

Als ich das zweite Kinderzimmer am Ende des Flures betrete, sehe ich mich selbst als Kind am ersten Weihnachtsfeiertag im weichen Sessel sitzend, „Das letzte Einhorn“ im Fernsehn schauen. Dazu gab es ein Brettchen auf dem ein Nutellabrot lag. Oma schnitt es immer mundgerecht zu kleinen Teilen. Ich denke an manche gruselige Nacht. In der ich in diesem Zimmer nicht einschlafen konnte und mit Heimweh weinend auf dem Teppich kauerte. Dunkle Schmutzränder an den Wänden lassen die Bilder, die früher dort hingen, heute nur noch erahnen. Hochzeitsfotos meiner Onkel und Tanten, meiner Eltern. Stolze Kinder mit riesigen Schultüten am Tag ihrer Einschulung….

MEINE MIT MIR HOCHSCHWANGERE MAMA SPRANG VON DIESEM BALKON,
UM MEINEN BRUDER AUFZUHALTEN, DER AUF DIE STRASSE RANNTE
Erinnerungen: Ein Echo aus vergangenen Tagen.

„Omaaa!“, ruft ein kleines Mädchen. Es ist die Stimme meiner siebenjährigen Schwester, die teilweise hier aufwuchs. Die Kinderstimme, die ich höre, entpuppt sich lediglich als ein Echo aus vergangenen Tagen, denn meine Schwester Jasmin ist erwachsen und steht gerade direkt neben mir.

Auf dem Weg in die Küche gehe ich noch mal am alten Badezimmer entlang und sehe uns Enkelkinder im Pyjama auf der Badewannenkante sitzen. Wo sind die Tage, an denen Oma unsere kleinen Gesichter in die linke Hand nahm, mit ihrer rechten dicke Tupfer Bebe-Creme verteilte und diese anschließend sanft verrieb?

Ich sehe Oma immer noch in der alten Küche beschäftigt hin und her wuseln. Auf der alten Anrichte stand immer eine alte Konfektdose. Darin warteten leckere Schleckies-Lutscher, Mamba und Maoam-Kaubonbons auf uns Enkelkinder. Jetzt steht diese Anrichte leer. „Wo Mutterhände liebend walten, bleibt das Glück im Haus erhalten“, stand auf einem eingerahmten Bild an der Wand gegenüber des Küchentisches. Beim Frühstück, Mittag- oder Abendessen – Jahr für Jahr las ich immer und immer wieder diesen Spruch.

Einst Wohnzimmer – heute Rumpelkammer.

Von der Küche kommt man direkt ins gemütliche Wohnzimmer. Heute wirkt es wie eine alte Rumpelkammer: Staubige Couchgarnituren, leere Tische und alte Möbel, die auf ihre Abholung warten. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke stand jedes Jahr ein kleiner, künstlicher Tannenbaum, den mein Opa kreuz und quer mit Lametta bewarf. Darunter standen für jedes Kind liebevoll dekorierte Weihnachtsteller.

Als meine Schwester und ich mit Tränen in den Augen gehen wollen, denke ich an die vielen Tränen der Trauer, des Leides und Schmerzes, die hier in fast 50 Jahren vergossen wurden. Aber auch an die wohlige Wärme an kalten Dezembertagen, wenn die Familie sich an Weihnachten an diesem Ort versammelte. Nun stehen wir vor der Tür. Jasmin und ich mögen den Ton der Schelle und drücken sie deshalb immer und immer wieder. So, als ob wir ihren nachhallenden Klang dadurch niemals vergessen würden. Wir gehen.

Eine Tür wird geschlossen – für immer.

Was bleibt ist die Gewissheit, dass am Ende nichts übrig bleibt. Keine teuren Möbelstücke, keine Fotos an den Wänden. Erst recht keine raumerfüllende menschliche Wärme. Ein Gefühl, welches dich auch Jahre später noch Geborgenheit fühlen lässt. Ich lebte bisher noch nie in einer Welt, in der es das Heim meiner Großeltern nicht gab. Bald werden fremde Menschen hier einziehen, hier leben und ihre eigenen Erinnerungen hinterlassen. Ich wünsche ihnen, dass sie so schön und voller Liebe sein werden, wie die meinen.

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