„Du kannst alles werden, was du willst!“, behaupten Erwachsene. Genauso wie die schlauen Lebensweisheiten auf Postkarten und Internet-Memes in Schönschrift mit viel Konfetti und ganz viel Einhornglitzer. Ja, gut, wenn das so einfach ist: Ich arbeite als Modejournalist, insgeheim will ich aber Illustrator sein! Ein Wunsch, den ich jahrelang nur in meinem Kopf und vor meinen engsten Freunden aussprechen konnte. Um diesen Traum zu verwirklichen, gebe ich alles auf, was ich mir aufgebaut habe und setze es auf eine Karte …
Erwachsene stellen kleinen Kindern immer wieder ihre typischen Fragen: „Na, was willst du denn später einmal werden, wenn du groß bist?“ So, als ob Antworten wie Feuerwehrmann, Tierarzt oder Sänger bereits zu diesem Zeitpunkt ausgemachte Sache wären. Wie bei vielen Kindern wechselt meine Antwort im Laufe der Jahre immer wieder. Eine Zeit lang sage ich: „Friseur“. Zwischendurch „Kindergärtner“. Dann „Schauspieler“. Nur um wenig später meine Entscheidung mit einem entschiedenen „Journalist“ zu manifestieren! Inspiriert durch meine Lehrerin in der Mittelstufe der Hauptschule. Dabei blieb es dann für viele Jahre. Mein Ziel – festgelegt. Der Weg dorthin: unsicher, steinig und ein einziger Umweg.
Es gibt Berufe, in die man schwer reinkommt und für die man sehr hart kämpfen muss. Meistens sind dies die Kreativen oder jene, für die man ein gewisses Maß an Talent und Qualifikation mitbringen muss. Dazu zähle ich definitiv den Beruf des Journalisten, den ich allerdings eher als Berufung ansehe. Ähnlich wie den des Arztes. Oder Künstler oder Schauspieler, im Gegensatz allerdings brotlose Kunst, wie man so schön sagt. Mit ihnen und ähnlichen Berufen geht oft ein Gefühl des Unerreichbaren einher. Meist sind es aber auch Jobs, die nicht sonderlich erfolgversprechend erscheinen. In unserer Arbeiter- und Leistungsgesellschaft bedeutet Erfolg nämlich vor allem eins: Geld! Und davon möglichst viel!
Also: Ich möchte Journalist werden, aber wie soll ich das schaffen? Ein überlaufenes Berufsfeld, schlecht bezahlt und nur was für richtig talentierte Schreiberlinge. Jene, die gerne den ganzen Tag qualmen, literweise Kaffee trinken, sich selbst völlig in ihrer Arbeit suhlen und dafür aufgeben … So einer bin ich zwar nicht (kleiner Einwurf vom Daniel aus der Zukunft: „noch nicht“), aber die journalistische Arbeit liegt mir. Zumindest das Schreiben bereitet mir viel Freude. Aber erscheinen die Hürden zu groß und schwer, um sie zu überwinden, beginnt man zu träumen.
Nach dem Abitur fühle ich mich verloren. Es folgt eine Durststrecke voll Praktika, jobben und einem abgebrochenen Germanistik-Studium. Dann führt mich mein Weg an die Akademie Mode & Design (AMD). In Düsseldorf studiere ich ab 2007 „Modejournalismus / Medienkommunikation”. Ein teures Privatstudium, für das ich einen heftigen Kredit aufnehmen muss. „Mein Traum ist es, als Modejournalist eine Festanstellung in der Redaktion eines Printmagazins zu bekommen“. Das neue alte Ziel noch mal gepimpt und auf den Punkt gebracht. Bescheiden und genügsam. Mehr erwarte ich nicht vom Leben. Ich liebe es, zu schreiben. Das reicht mir.
Aber ich liebe es auch zu zeichnen. Eine herzerwärmende, typische Zeichnerhistorie à la „Bereits seit ich kleines Kind war, konnte ich den Stift nicht aus der Hand legen und habe immer nur gezeichnet und gezeichnet“ – damit kann ich nicht dienen. Irgendwann mit 13 oder 14 Jahren fing ich einfach damit an. Zack, schockverliebt. Und manchmal wächst Liebe mit der Zeit.
Über ein weißes Blatt Papier gebeugt, mit einem Bleistift Strich für Strich etwas skizzieren, erschaffen. Das Kratzen der Mine auf dem Papier hallt dabei in meinem leeren Kopf wider. Radieren. Neu anfangen. Ausbessern. Tunke ich einen Farbpinsel in ein Wasserglas, lade ihn mit Farbe auf und lasse ihn über das befeuchtete Aquarellpapier gleiten, bleibt mein Herz für einen kurzen Augenblick stehen, macht einen Freudensprung. Vor Aufregung und Entspannung, vor Angst und Freude zugleich, während die Farbschlieren sich eigenmächtig ausweiten und ihre Wege bahnen. Meine Gefühle wirbeln herum wie das bunte Wasser in meinem Glas. Dies sind die wenigen Augenblicke in meinem Leben, in denen ich nichts denken muss und mich frei fühle.
Sommer 2016. Nach langen und harten Arbeitstagen sitze ich mit meiner besten Freundin an ihrem Küchentisch. Wir arbeiten zusammen. Unzufrieden im Job, ausgelaugt vom vielen Stress, genervt von mir selbst, müde und traurig vom Grübeln. Luxusprobleme! „Hey, du bist Chefredakteur eines Online-Modemagazins, arbeitest in (d)einem Traumjob. Okay, Geld hast du trotzdem keins, weil du um diesen Traum zu leben, einen scheiß-teuren Studentenkredit aufgenommen hast und noch ewig abbezahlst. (Und der Staat dich zwingt Unterhalt für dienen Vater zu bezahlen.) Aber hey! Du hast eine Festanstellung und muss dir keine Sorgen um deine Krankenversicherung machen!“ Mein Mantra, welches ich mir täglich aufsage und nicht einmal infrage stellen kann, denn wie schon eine verschnupfte Emily in „Der Teufel trägt Prada“ zu sagen pflegte: „Ich liebe ich meinen Job, ich liebe meinen Job!“ Ich bin gerne Chefredakteur, schreibe mit Herzblut und setze mich tagtäglich mit meiner Passion für Mode und Worten auseinander.
„Ich habe heute den ganzen Tag, den ganzen Tag nur ans Zeichnen denken können“, sage ich zu Sarah und haue bei jedem Wort mit der Faust auf den Tisch. So, als wolle ich ihnen so noch mehr Ausdruckskraft verleihen. „Ich will so gerne als Illustrator arbeiten.“ Meine Freundin kennt mich. Sie sieht mir in die Augen, während sie ihre Hand auf meine Faust legt und sagt: „Ich weiß, und das wirst du auch!“
Wann fing es an, dass sich auf der Arbeit meine Gedanken ständig ums Zeichnen drehten? Wünschend, ich könnte jetzt ein Bild malen, anstatt den fünften Text in Folge zu redigieren. An welchen Punkt begann es mich zu ärgern, abends heimzukommen, zu müde, um noch etwas zu zeichnen? Und wenn, dann entweder voller Frustration aufzugeben, weil ich mich nicht fit genug fühle, um meinem eigenen Anspruch zu genügen. Wie soll man sich verbessern, wenn man mit Glück nach einem langen Arbeitstag vielleicht zwei Stunden Zeit für ein bisschen Krickeln findet? Nur, um knatschig wie ein Kleinkind den Stift ins Etui zu verstauen und zeitig ins Bett zu gehen.
“Sei nicht so undankbar!” Fällt es mir deshalb schwer zuzugeben, dass mein Herz lauter schlägt, wenn jemandem ein Bild von mir gefällt, als wenn ich einen Star wie David Beckham interview? Bin ich jetzt undankbar den Privilegien gegenüber, die ich schätze und durchaus auch genieße? Die Gefühlswaage tendiert unweigerlich ein wenig mehr zu einer Seite. Aber das schlechte Gewissen bringt sie wieder ins Gleichgewicht. Ich fühle mich schuldig. So wie ein Vater, der sich zwischen seinen zwei Kindern entscheiden muss. Welches Kind liebst du mehr? Natürlich beide gleich! Geht das überhaupt? Zieht sich Mütter oder Väter nicht auch der Magen zusammen, wenn sie sich so eine Entscheidung vorstellen?
Leidenschaft. Kreative Menschen brauchen sie, um ihre Berufung auszuleben. Ich besitze sie für alle drei kreativen Grundfesten meines Lebens. Für das Schreiben, die Mode und für das Zeichnen. Das „Leiden“, auch oft als „Passion“ bezeichnet, beschreibt einerseits einen Zustand des sich Quälens, des Erduldens. Eine adäquate Beschreibung des kreativen Prozesses, egal ob Zeichnen, Basteln oder Schreiben. Denn so schön kreative Arbeit auch sein kann, so gequält erlebt man sie auch oft. Das Suffix „Schaft“ hingegen bezeichnet einen Zustand. Leidenschaft ist eines der wenigen Wörter in der deutschen Sprache, das sich fast selbst erklärt: „ … beschreibt die intensive Verfolgung von Zielen von beispielsweise Kunstliebhabern (…) Im heutigen Alltagssprachgebrauch ist ein Zusammenhang mit „Leiden“, von dem sie abgeleitet ist, kaum noch präsent; „Leidenschaft“ wird mitunter wertfrei, meist sogar positiv konnotiert“. (Wikipedia)
Vor einem Jahr (2017) fasste ich den endgültigen Entschluss, meinen Job als Chefredakteur aufzugeben. Hätte ich mich damals getraut, diesen Entschluss zu fassen, wenn der Leidensdruck nicht ohnehin bereits so groß gewesen wäre? Vielleicht Luxusprobleme, vielleicht aber auch nicht. Denn das Maß und die Gewichtung des eigenen Leids kann letztendlich jeder nur für sich selbst festlegen. So, wie die persönliche Schmerzgrenze. Es hilft nichts, wenn andere sagen, dass deine Probleme ihnen harmlos erscheinen. Denn Sorgen, die diese Menschen für existenziell halten, können aus deiner Sicht wiederum nichtig wirken. Fest stand: Mein (kreativer) Akku war leer.
Gesundheitsgefährdender Stress, Überarbeitung und zwischenmenschliche Differenzen führen am Ende dazu, dass ich meinen Posten als Chefredakteur aufgegeben habe. Die Folge: Trauer. Tränen. Zweifel. Antriebslosigkeit. Depression. So wie ich war, wollte ich nicht leben. Liebe zum Beruf hin oder her. Meine Leidenschaft ging auf dem Weg ohnehin irgendwo zwischen Überstunden und vermeintlichem Jetsetleben verloren. Ich habe nicht einmal gemerkt, wann es so weit gekommen war. Ich hätte den einfachen Weg gehen können, anstatt den Mut aufzubringen, das Problem zu lösen. Aber: „Es gibt Momente im Leben, da muss man die Notbremse ziehen!“ – Wieder so ’ne Lebensweisheit (aus dem Film „Charlie & Louise – Das doppelte Lottchen“). Aber eine gute! Eine Künstlerin, die ich sehr bewundere, schrieb einmal: „Manchmal muss man auch vor etwas davonlaufen. Hauptsache, man hat den Willen und die Kraft weiterzumachen.“
Und jetzt? Ich könnte mir einen neuen Job suchen und das gleiche Spiel noch mal von vorne durchspielen. Ich entscheide mich für einen viel größeren Schritt: Selbstständigkeit – ein großes Wort. Genauso wie Glück. Wir Menschen verfolgen stets zwei Ziele im Leben: Glück zu vergrößern und Unglück zu verringern. Dr. Ha Vinh Tho, Leiter des Zentrums für Bruttonationalglück in Bhutan, merkt gegenüber dem Magazin NEON an: „Der zweitwichtigste Aspekt zum Glück ist die Selbstverwirklichung im Beruf. Jeder muss sich fragen: Was liebe ich wirklich? Wer langfristig nicht das macht, was er liebt, landet in einer Sackgasse. Was bringt einem denn ein großes Haus und eine fette Villa?“ Was wird mich glücklich machen?
Ob mich mein Traum vom Berufsleben als Illustrator glücklich machen wird, weiß ich jetzt noch nicht. Denn so groß die Vorfreude auf diese neue Herausforderung auch ist, gehören Selbstzweifel und (Existenz-)Ängste genauso dazu wie Glauben und Zuversicht. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass ich meinen Traum vom Journalismus aus eigener Kraft und Leidenschaft wahr werden lassen konnte. Und daran glaubte ich früher auch nicht wirklich! Das letztendliche Resultat entpuppte sich sogar als noch krasser als beabsichtigt. (Wir erinnern uns: „Ich will Redakteur sein“ und daraus wurde dann „Oops, ich bin Chefredakteur!“) Warum sollte ich den Traum vom Illustrieren also nicht auch verwirklichen können? Aber was ist, wenn ich es nicht schaffe? Gute Frage. Aber was, wenn ich es schaffe?!
Oktober 2017. Wenige Wochen nach dem großen Umbruch alles offiziell zu machen, klingelt das Telefon. Am anderen Ende eine ehemalige Arbeitskollegin aus München. Die Make-up-Marke Misslyn sucht einen Illustrator für ihre neue Kampagne. Pop-Art-Illustrationen sollen es sein. Möglicherweise für Aufsteller in Geschäften. Oder doch „nur“ Flyer. Man wisse es noch nicht genau. „Kannst du dir vorstellen, das zu übernehmen?“, fragt meine Freundin. Und ob ich mir das vorstellen kann! Ab jetzt heißt es: Skizzen zeichnen, dem Kunden zur Abnahme schicken, Änderungen besprechen, neu skizzieren. Anstrengend. Denn jeder Änderungswunsch fühlt sich oft wie eine Kritik an der eigenen Person an. Gerade, wenn man etwas mit Herz und Seele kreiert. Darüberstehen, weitermachen. Das kenne ich noch vom Artikelschreiben.
„Kritik ist Liebe“, hat mein ehemaliger Chef immer wieder gesagt. Und Kritik hilft mir, mich zu verbessern. Früher hat mich jede Kritik sehr hart getroffen. So, dass es mir immer unangenehm war, meine Arbeiten zu zeigen. Heute kann ich zuhören, sie annehmen, ohne Rechtfertigungs- oder Erklärungsversuche verstehen und sogar daran wachsen.
Der Kunde wünscht sich digitale Illustrationen im Pop-Art-Stil. Also die Skizzen einscannen, am Computer nachzeichnen und kolorieren. Die zahlreichen Korrekturschleifen schlauchen und ziehen sich über Tage. Meine Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld. („Die Liebe ist nun mal ein Schlachtfeld!“) Für richtige Mahlzeiten ist keine Zeit, Arbeit im Akkord! Wenn man als Selbstständiger an einem Auftrag sitzt, lebt man irgendwie nur für diesen Job. Das realisiere ich gerade. Aber ich ertappe mich immer wieder dabei, wie sehr ich mich über diese Arbeit und diese Chance freue. Die Schulter schmerzt. Egal. Müde. Egal. Innerhalb einer knappen Woche sind die Illustrationen fertig und beim Kunden. Nun erst mal das Leben aufräumen. Bis zum nächsten Auftrag, der bereits in den Startlöchern steht. Dieses Mal für die Caritas Rheinland.
Zwei Monate später. Ein Besuch in der Stadt mit meiner Freundin. (Die mit vermöbelten Küchentisch.) Wir stehen vor der Galeria Kaufhof und wollen uns verabschieden. Da fällt mir ein: „Wollen wir mal kurz reingehen und zum Misslyn-Stand ansehen? Vielleicht sind die Aufsteller ja da?“ Völlig ahnungslos, was der Kunde letztendlich aus meinen Illustrationen gemacht hat. Eine freundliche Verkäuferin führt uns zur Ausstellungsfläche. Lippenstifte, Mascara, Puder und … MEINE ZEICHNUNGEN? Ein circa 60 cm-großer Aufsteller umringt die neuen Nagellacke. Meine Freundin rastet aus, holt ihr Handy raus und knipst sofort etliche Fotos. Ich hingegen stehe versteinert davor.
Passiert das gerade wirklich? Dieses Gefühl hatte ich das letzte Mal vor Jahren gespürt, als die ersten beiden Kinderbücher erschienen sind, die ich illustriert habe. Das ist einfach zu krass, das kann man nicht in Worte fassen. Eine Mischung aus Glück, Unglaube, Stolz, Freude und Dankbarkeit – und das alles gleichzeitig. Dieses Gefühl möchte ich nie wieder vergessen. Über meinem Schreibtisch hängt ein Zettel, auf dem steht: „Wenn du aufhören willst, denk daran, warum du angefangen hast.“ Das werde ich.
Meine Passion für das Schreiben musste ich auch nicht zwangsläufig aufgeben. Ich führe einen eigenen Blog, möchte weiterhin frei für Magazine schreiben und unterrichte als Dozent „Online / Journalismus“ an der Akademie Mode & Design (AMD). Dort, wo ich selbst vor Jahren noch die Lehrbank gedrückt habe. Etwas, das ich früher niemals auch nur im Entferntesten für möglich gehalten hätte. Vor allem ehemalige Kommilitonen und Dozenten, heute Kollegen, auch nicht. Aber gerade das ist es, was das Leben ausmacht. Manchmal haben Erwachsene und Einhorn-Glitzer-Karten doch recht: Du kannst wirklich alles erreichen oder werden, was du willst. Es braucht lediglich den Glauben an dich selbst und den Mut, dein Ding durchzuziehen.
Weine ruhig! Solange du die Tränen wegwischst. (Ver)Zweifel ruhig, solange du aufstehst und weitermachst. („Einfach schwimmen“!) So wie dieser Junge von damals, der heute diesen Text schreibt. Wenn es ihm gelungen ist, aus einer auf Sozialhilfe angewiesenen Familie mit alleinerziehendem Vater von der Hauptschule auf ein Gymnasium zu wechseln, sein Abitur zu absolvieren, zu studieren, vom Praktikanten zum Chefredakteur aufzusteigen und sich dann auch selbstständig zu machen … Dann schaffst auch du alles, was du dir vornimmst. Ich weiß nicht, ob man über mich sagen kann “aus dem ist was geworden” oder dass ich „erfolgreich“ bin. (Reich auf jeden Fall nicht.) Aber das ist mir ehrlich gesagt ganz schön egal. Denn ich lebe meinen Traum.